Würden Sie mich nehmen?

Kommentare 5
Allgemein

Stattdessen wurde ich Mutter

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit einigem Zögern bewerbe ich mich als Gast in Ihrer Residenz für Schriftstellerinnen. Denn mich eine Schriftstellerin zu nennen fällt mir schwer. Ich bin vielleicht 1% Schriftstellerin. Obwohl ich schon mit acht Jahren wusste, dass ich unbedingt einmal eine werden möchte. Stattdessen wurde ich Mutter.

Vor 17 Jahren wurde mein Sohn geboren und seitdem gab es keine Chance, dem Schreiben jenseits vom Broterwerb mehr Raum zu geben. Nachdem ich vor 12 Jahren bei meinem damaligen Ehemann ausgezogen bin, wurde meine Lage prekär: Immer wieder kam es vor, dass ich im Discounter einen Einkaufswagen voller Milch, Käse, Möhren, Kartoffeln, Saft, Brot etc. stehen lassen musste, weil am Ende des Monats das Konto nicht gedeckt war. Scham.

Nie wieder arm zu sein war daher das einzige, was lange zählte. Dank meines Stipendiums bei der Heinrich-Böll-Stiftung schaffte ich es, mein Studium abzuschließen. Nebenher arbeitete ich als freie Journalistin, Autorin und Podcasterin. Erst seit ein paar Jahren kann ich sagen, dass ich mein Ziel erreicht habe. Dass ich nicht mehr arm bin. Ich kann sogar mit meinen Kindern Urlaube machen und für schlechte Zeiten etwas Geld beiseite legen. Das kann ich auch, weil ich 2017 eine eigene Firma gegründet habe.

Was bisher geschah

Im März 2021 begann ich mein Fernstudium „Prosaschreiben“ bei der Textmanufaktur. Im Februar 2024 schloss ich es ab. Erfolgreich, würde ich sagen, denn letztes Jahr fing ich an, meinen ersten Roman zu schreiben. Zusammen mit meiner Lektorin entwarf und überarbeitete ich mehrere Kapitel, ein Storyboard entstand. Leider wollte das Leben dann nicht mehr so wie ich wollte: Berufliche Krisen, ein Trauerfall und eine private Krise nahmen mich komplett in Beschlag, und der Roman lag zehn Monate lang auf Eis. Aber er wird kommen.

Vier Bücher, alles Sachbücher, habe ich geschrieben. Sie alle haben mir geholfen, mich als Publizistin und feministische Stimme zu etablieren. Sie handeln von Emanzipation, Sexualität, Feminismus und – mein letztes Buch – dem Leben von Beate Uhse, einer Unternehmerin und Pionierin der deutschen Sexualaufklärung. Eine Zusammenfassung meiner Arbeit hänge ich an.

Ein weiteres Sachbuch entsteht gerade: Zusammen mit meinen beiden Kolleginnen von „Feminismus für alle“, ein Podcast, den ich 2013 gegründet habe, arbeiten wir an einem Feminismus-Buch, das 2025 erscheinen wird – das Exposé finden Sie anbei. Bis zur Abgabe des Buches werde ich also wieder keine Zeit für meinen Roman finden. Denn als alleinerziehende Chefin sind die Zeiträume, die für Kreativität und Schreiben bleiben, sehr rar. Nur an den Wochenendvormittagen schaffe ich es, zwei Stunden am Stück zu schreiben.

Darum sehne ich mich nach einer Möglichkeit, 100% meiner Zeit dem Schreiben zu schenken. Jetzt, da auch mein jüngstes Kind alt genug ist und zwei Wochen ohne mich sein kann, möchte ich diesen lang gehegten Traum angehen.

Jetzt ist es soweit. Ich bin flügge.

Ich möchte, wie Orwell sagt, eine Zeugin meiner Zeit werden – ihrer Konflikte, Repressionen, Schatten. Deswegen wird mein Roman die Geschichte einer Frau, die sich aus gewaltvollen Abhängigkeitsverhältnissen befreit – mein Feminismus wird auch in ihm leben.
Um diesen Roman zu schreiben – vielleicht sogar zu vollenden, würde ich wahnsinnig gern im Sommer 2025 Ihre Residenz besuchen, fernab von allen Ablenkungen. Ich bekomme am Tag über 100 Emails und ich wünsche mir eine Zeit, in der das einfach egal ist, einen Raum, der nur dem Schreiben gehört.

Amnesty – Israel – Apartheid?

Schreibe einen Kommentar
Allgemein

Amnesty International wirft Israel Apartheid vor. Wir haben bereits letzte Woche und auch diese Woche in der Wochendämmerung darüber gesprochen. Und nicht nur wir: Weltweit dreht die Debatte gerade viele Runden, viele Menschen äußern sich. Dabei hatte ich die meiste Zeit das Gefühl, dass mir die Kommentare nicht reichen und dass ich mir selbst ein Urteil bilden will. Also habe ich mir den 280 Seiten langen Bericht ausgedruckt (bzw. damit begonnen, irgendwann war mein Toner leer) und mich unter eine Käseglocke begeben, um über der Frage zu brüten, ob Amnestys Vorwurf berechtigt ist, oder – wie Israelische Politiker Amnesty vorwerfen – einfach nur antisemitisch.

Gleich vorneweg: Ich bin nicht durch den gesamten Bericht gekommen, aber das musste ich auch nicht, denke ich. Ich habe ein gutes Bild davon bekommen, wohin deren Reise geht, aber dazu später.

Ich habe ein paar Gedanken mitgebracht. Ob das ganze danach fertig beurteilt ist? – mal sehen, aber es sind die Gedanken, die ich mir bei der ganzen Recherche einfach selbst gemacht habe und die ich teilen möchte – vieles davon basiert auf Infos aus einem sehr ausführlichen Wikipedia-Artikel zur Apartheid-Analogie.

Der Begriff Apartheid

Die meisten Menschen verbinden mit dem Begriff das System der Apartheid in Südafrika. Amnesty beruft sich in der Nutzung des Begriffs aber auf das Römische Statut des internationalen Strafgerichtshofs. Darin steht: Apartheid

„bedeutet […] unmenschliche Handlungen […], die von einer rassischen Gruppe im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung einer oder mehrerer anderer rassischer Gruppen in der Absicht begangen werden, dieses Regime aufrechtzuerhalten.“

Die Problematik an dem Begriff „Apartheid“ ist, dass er schon seit 1961 in Zusammenhang mit Israel im Umlauf ist und tatsächlich seitdem besonders gerne von Israel-Gegnern benutzt wird, um Israels Existenzrecht infrage zu stellen. Nicht zuletzt die anti-israelische BDS-Bewegung geht damit hausieren und warum die als antisemitisch eingestuft werden kann, habe ich bereits vor fünf Jahren ausführlich im Lila Podcast beleuchtet (wobei mir daran seitdem ein paar Zweifel gewachsen sind…).

Und natürlich ist es ein Problem, dass ausgerechnet Human Rights Watch und Amnesty jetzt sagen: Ja, es ist Apartheid – weil: Die BDS-Bewegung feiert es, feiert sich – seht ihr, wir haben es schon immer gesagt! – und das ist eine potentielle slippery Slope: „Ach, die haben das schon immer gesagt und jetzt bescheinigen die beiden wichtigsten Menschenrechtsorganisationen denen das auch noch – also haben die vielleicht in allem anderen auch recht…?“
Das ist ein echtes Problem. Weltweit sehen sich BDS-Anhänger*innen nun bestätigt, darunter sehr prominente Leute wie Judith Butler, Naomi Klein, Kae Tempest und andere, die sowieso auch selbst hoch angesehen sind (ich bin Fan jeder dieser drei – was echt kognitive Dissonanz erzeugt, aber das ist ein anderes Thema).

Doppelte Standards

Was für mich auch ins Wanken gekommen ist, das ist der sogenannte 3D-Test, den ich – ebenfalls vor bald fünf Jahren – selbst noch in einem Text bei Krautreporter als Hilfe bei der Identifizierung von Antisemitismus angeführt habe. Denn eines der drei Ds lautet: Doppelte Standards. Sprich: Israel anders zu bewerten und mehr von diesem Staat zu erwarten, als von anderen. Das sei unfair. Aber ist es das wirklich?

Israel ist ein Staat, der als westliche Demokratie angesehen wird. Die Gepflogenheiten der umliegenden Staaten mögen andere sein, insbesondere was die Menschenrechte angeht – und so entsteht der Vorwurf: Warum seid ihr hier so hart und seht die Gewalt und Menschenrechts-Verstöße der anderen Länder nicht?

Wir sehen sie – aber ja: wir messen mit einem anderen Maß. An Israel wird der Maßstaab angelegt, den man auch an jede andere westliche Demokratie anlegen würde – der ist strenger und erlaubt weniger Diskriminierung. Und damit wackelt das eine D aus den Drei D des Antisemitismus: Doppelte Standards, Delegitimierung und Dämonisierung.

Ja, doppelte Standards, denn Israel ist eine westliche Demokratie. Die Unterstützung, die Israel dabei erhielt, diesen Staat aufzubauen, das beruhte auch auf der Annahme , dass sich der neue Staat wie eine Demokratie benehmen wird und Menschenrechte einhält. (Übrigens einen schönen Einführungstext zur Staatsgründung Israels gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung).

Nicht nur ein antisemitischer Diskurs

Die Frage, ob Israel eine Politik der Apartheid betreibt, wird jenseits der antisemitischen Kräfte auch sehr lebhaft in Israel selbst debattiert und von internationalen Experten aufgegriffen – nur nutzen die dann eventuell einen anderen Begriff: Hafrada. Das ist hebräisch und bedeutet Trennung.
Hafrada ist seit Mitte der Neunziger Jahre Politik der israelischen Regierung. Ehud Barak, Premierminister in Israel von 1999 bis 2001, drückte es recht einfach aus: „Wir hier. Die dort“ – „Us here, them there“ – „wir“ sind die jüdische und „die“ die arabische Bevölkerung. – Derselbe Ehud Barak hat übrigens einige Jahre später, 2010, selbst gesagt: „Wir müssen Frieden mit den Palästinensern machen oder wir werden Apartheid erleben.“ Entweder oder.

Die Hafrada-Politik ist keine Politik, die auf die Gründung des Staates Israel zurück geht, sondern eine, die noch relativ jung ist – die Idee entstand in den 1990er Jahren, die Umsetzung kam dann um die Jahrtausendwende. Und besonders der letzte Premierminister, Benjamin Netanyahu, der im In- wie im Ausland wahnsinnig umstritten war, der korrupt war und der sehr nationalistisch ist, hat zur Verschärfung der Lage der Palästinenser in Israel und in den besetzten Gebieten beigetragen. 

Es wird immer schlimmer

Und das ist etwas, das viele Kommentator*innen vielleicht nicht auf dem Schirm haben: Es wird immer schlimmer. Allein in den letzten 20 Jahren hat sich die Lage für die Palästinenser*innen massiv verschlechtert, Israels Durchsetzung der Hafrada immer mehr Raum eingenommen – im wahrsten Sinne des Wortes: Raum.

Nur ein Beispiel von sehr vielen aus dem Amnesty-Bericht: Da geht es um den Abriss von Häusern, die angeblich „illegal“ seien. Amnesty schreibt: „Zwischen 2012 und 2014 wurden 97% der Abriss-Anordnungen in Regionen verhängt, die Israelische Verantwortliche den Arabischen Sektor nennen“. Bei Haaretz findet man dazu eine konkrete Zahl: etwa 160 Abrisse werden jedes Jahr vorgenommen. Das ist schon viel – überhaupt thematisiert Haaretz das ganze auch sehr kritisch, denn die Abrisse angeblich illegaler Häuser und Siedlungen sind Teil der Diskriminierung arabischer Menschen auf israelischem Gebiet – 50.000 Häuser, schätzt man, haben keine Baugenehmigung und gelten damit als illegal – die Erteilung der Baugenehmigungen an Palästinenser wird gleichzeitig durch die Bürokratie blockiert. Auch das steht im Amnesty-Bericht.

Es wird halt wirklich immer schlimmer. Ein weiteres Beispiel ist das Thema Wasser in der Westbank – durch die Siedlungen haben jüdische Siedler dort, die gerade mal 15% der Bevölkerung ausmachen, 80% der Wasserressourcen – ein Kommittee für auswärtige Angelegenheiten des französischen Parlaments sagte 2012 dazu: „Wasser wird als Waffe der neuen Apartheid eingesetzt“. 

Oder auch die Association for Civil Rights in Israel – die eigentlich mit dem Begriff Apartheid sehr zurückhaltend war – 2008 in einem Statement: „Things are getting worse.“

Als Benjamin Netanyahu 2020 ankündigte, die West Bank annektieren zu wollen, sagte ein langjähriger Kritiker der Apartheids-Analogie, Benjamin Porgrund: „Okay, jetzt ist es Apartheid“. – Der Titel war damals:

„Annexation will mean apartheid, warns Mandela ally who always fought comparison“

Und er reiht sich wirklich ein in eine lange Liste an Wissenschaftlern, Politiker*innen – auch israelischen – und Intellektuellen, die dazu in den letzten Jahren ihre Meinung geändert haben. Es gibt Urteile aus Den Haag, zB zum Bau der Mauer / bzw. des Zauns. Als 2018 die Jewish State Bill erlassen wurde, war es die Europäische Union, die hart kritisierte – weil das die Zwei-Staaten-Lösung unterminiert. 

Also hat Amnesty recht?

Jein. Die Auflistung der Menschenrechtsverstöße und die Sammlung der Beweise, die den Vorwurf „Apartheid“ rechtfertigen, ist ausführlich und basieren auf Fakten, die man auch anderswo nachlesen und prüfen kann.

Aber: Der Amnesty-Report hat auch eine ziemliche Schlagseite und wühlt in meinen Augen destruktiv in der Vergangenheit (wobei die Gewalt der Palästinenser einfach ausgeblendet wird – Amnesty zählt nur akribisch die Menschenrechtsverletzungen durch Israel und bietet keinen Kontext in die Kriege und Angriffe).

Ich war an vielen Stellen erstaunt, wie einseitig der Bericht ist und finde: Amnesty hat sich mit dem Report keinen Gefallen getan, aber: Liest man den Report gründlich, listet er unzählige Menschenrechtsverstöße gegen die Palästinenser auf, die in den 1960er Jahren und Folgende noch mit „Sicherheit Israels muss gewährleistet werden“ zu rechtfertigen gewesen sein mögen – ey, wir kamen aus dem zweiten Weltkrieg, die Juden hatten den HOLOCAUST erlebt – Israel war NOTWENDIG und darin liegt für mich ein eindeutiges Existenzrecht und zwar für immer! (Und die räumlichen Nachbarn sind halt … die hassen Israel und schicken da Terroristen hin, die sich in die Luft sprengen – davon steht aber in diesem Bericht beinahe nichts!)… Aber man muss die Lage immer wieder neu bewerten.

Rassismus ist nicht Apartheid

Und ein weiteres Problem hat der Bericht: Er vermischt Rassismus und Apartheid.

Viele Advokaten der Apartheids-Terminologie argumentieren mit systematischem Rassismus: Palästinenser in Israel verdienen weniger, bekommen schwerer Wohnungen, sind häufiger krank, haben schlechtere Bildungs-Chancen usw… Und ja, das ist scheiße. Aber: Das ist „normaler“ Rassismus, wie es ihn auch in den USA gibt – der auf jeden Fall bekämpft werden muss, der nicht noch schlimmer werden darf (in den USA zB der Versuch, nicht-weiße vom Wählen abzubringen) – aber es ist eben nicht Apartheid.

Besonders deutlich wird das am Beispiel Schulsystem: Ja, arabische Schüler*innen bekommen weniger Geld, machen schlechtere Abschlüsse und haben dadurch weniger Chancen im Leben – aber das ist Rassismus und das israelische Bildungsministerium hat es sich auf die Fahne geschrieben, diese Lücke zu schließen. Es würde übrigens bei uns kaum anders aussehen.

Ein Begriff, den man nicht leichtfertig verwendet

Also: Apartheid oder nicht? – 65 % aller akademischen Nahost-Expert*innen stimmten in einer Umfrage im Februar 2021 zu, dass die israelische Praxis – also die ganz konkrete Politik der Regierung – eine „One-State Reality akin to Apartheid“ sei – insgesamt ist eine große Zustimmung zu finden, fragt man nach der Bezeichnung des Zustand in den besetzten Gebieten.

Was gegen den Begriff spricht? – Dass der Begriff nur dann zu funktionieren scheint, wenn man sich die besetzten Gebiete anschaut. Auf israelischem Boden ist es „nur“ Rassismus (siehe oben) – und das hat Israel nun wirklich mit vielen westlichen Demokratien gemeinsam. Aber das ist nicht gleich Apartheid. Auch hier eine Schwäche des Berichts – er will offenbar zu viel. Auch Richard C. Schneider schreibt dazu im Spiegel, dass der Bericht daran kranke, nicht abzugrenzen, was auf dem israelischen Staatsgebiet passiere und was in den besetzten Gebieten:

„Denn Amnesty nimmt sich das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeerund Jordan vor und macht keinen Unterschied zwischen dem souveränen Staat Israel und dem in großen Teilen von Israel besetzten Westjordanland sowie dem Gazastreifen, in dem die islamistische Hamas das Sagen hat.“

Diesen Vorwurf liest man immer wieder, wenn jemand Israel Apartheid vorwirft.

Was gehört zu Israel und was nicht?

Und damit sind wir beim Thema „Tatsachen schaffen„. Denn das ist ein wesentlicher Bestandteil der israelischen Politik der letzten 20 Jahre. Mit dieser Politik hat Israel selbst dafür gesorgt, dass ein zusammenhängender Palästinensischer Staat nicht mehr möglich ist. Israel selbst hat dafür gesorgt, dass die Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr gehen würde. 

Insofern kann man auch sagen: Israel hat selbst dafür gesorgt, dass man eine Ein-Staaten-Perspektive auf die Lage einnehmen muss – und das greifen die Anhänger*innen der Apartheids-Analogie auf: Wenn zwei Staaten gar nicht mehr möglich sind, wenn Israel außerdem die besetzten Gebiete komplett kontrolliert, dann muss es als EIN Staat betrachtet werden – die besetzten Gebiete zum Verantwortungsbereich des Staates Israel gezählt werden und schon ist Apartheid der richtige Begriff. Eines der Hauptargumente, nämlich: Westbank und Gaza gehören ja nicht zum israelischen Staatsgebiet – wäre damit obsolet.

Zwischendurch ein Widerspruch

Weiter vorne habe ich gesagt: Israel ist eine westliche Demokratie und deswegen müssen wir auch die entsprechende Messlatte anlegen. Ich möchte mir an dieser Stelle selbst widersprechen!

Israel ist kein normaler westlicher Staat – Israel hat einige der Gesetze, die jetzt in der Kritik stehen, aus Notwehr erlassen. Z.B. das Citizen & Entry Law von 2003: Es folgte auf eine schlimme Reihe von Selbstmorden auf israelischem Gebiet und nachdem einige Palästinenser, denen man vorher die Staatsbürgerschaft gegeben hatte, wegen Familienzusammenführung, an schlimmen terroristischen Attacken auf Israel beteiligt waren. Das Gesetz sollte eigentlich nur vorübergehend gelten, wurde seitdem aber jedes Jahr erneuert. Es ist aber selbst in Israel umstritten: Das Oberste Gericht musste 2006 darüber entscheiden und die Abstimmung ging 6 zu 5 Stimmen für das Gesetz aus.

2008 hat der Herausgeber von Haaretz,  über das Gesetz gesagt, es diskriminiert arabische Menschen dermaßen gegenüber jüdischen, dass es Israel zu einem Apartheids-Staat macht. Es sind Gesetze und Politiken wie dieses – jüngeren Datums – die eigentlich im Mittelpunkt der Debatte stehen sollten.

Ich habe während meiner Zeit unter der Käseglocke feststellen müssen: Je mehr man sich in die Thematik einarbeitet, desto absurder wird eigentlich der Vorwurf, es gehe darum, Israel das Existenzrecht abzusprechen. Oder würde, wenn Amnesty dahingehend nicht einen roten Teppich ausgerollt hätte, da sich der Report wirklich ständig auf die Zeit nach 1948 und die 18 Jahre Militärbesatzung bis 1967 und die Menschenrechtsverletzungen dadurch beruft. Die ständige Kritik an Dingen, die ab 1948 passiert sind, lässt es vermutlich für viele Leser*innen so aussehen, als sei der Staat Israel von Anfang an ein illegitimes Unterfangen.

Fazit:

Amnesty hat sich mit dem Report absolut keinen Gefallen getan und unnötigerweise sowohl Antisemit*innen, als auch den Gegnern der Apartheids-Analogie Wasser auf die Mühlen geschüttet. Die einen können sich bestätigt fühlen in ihrer israelfeindlichen Agenda und die anderen können sich darauf zurückziehen, der Bericht spreche Israel das Existenzrecht ab und die unzähligen Menschenrechtsverstöße damit weiter unter den Teppich kehren.

Richard C. Schneider hat in seinem Artikel gezeigt, wie das geht, denn er schreibt:

„Der entscheidende Vorwurf, den Amnesty erhebt, ist die von Anfang an angebliche aggressive »Fragmentierung« von Land und Bevölkerung. Zu Ende gedacht, bedeutet das, dass es ganz egal wäre, auf welche Grenzen Israel sich zurückziehen würde. Allein die Tatsache, dass Israel überhaupt existiert, wäre demzufolge eine »Fragmentierung« Palästinas.“

Diese Flanke hat Amnesty offen gelassen und wird sich nun immer wieder vorwerfen lassen müssen, sein Report spreche dem Staat Israel das Recht auf seine Existenz von Anfang an ab (und ja: Man kann das wirklich so lesen). Und das kann ja nun niemand wollen. Also ich will das nicht und bekomme sofort Distanzierungs-Reflexe.

Doch da sollten wir nicht stehen bleiben, denn die Debatte um den Vorwurf der Apartheid ist in Wahrheit schon viel weiter. Und trotz der genannten Mängel, ist die Auflistung der Menschenrechts-Verletzungen gegenüber den Palästinensern faktenbasiert und belegbar. Sie ist ein Problem, das ernst genommen werden muss. Dazu gehört auch, den Automatismus hinter sich zu lassen, jede Nutzung des Wortes „Apartheid“ in Zusammenhang mit Israel sofort als „Antisemitismus“ zu brandmarken.

Wir haben 2022 und es ist mir auch zu billig, dass man von den Verantwortlichen in Israel meist eine von drei Antworten bekommt, wenn man auf die Missstände aufmerksam macht:

  1. Das ist für unsere Sicherheit notwendig – schon Den Haag hat versucht, Israel zu erklären, dass es seine Sicherheitsbedenken nicht beliebig dafür nutzen kann, die Rechte von Palästinenser*innen zu unterdrücken
  2. Das ist antisemitisch
  3. das spricht Israel das Existenzrecht ab.

Und damit habe ich schon ziemlich viel meiner eigenen früheren Position aufgegeben. Nur eines werde ich nicht aufgeben: Die Überzeugung, dass es in der Frage nach der „richtigen Seite“ im Nahost-Konflikt immer am besten ist, sich an jene zu halten, die für Frieden, Menschenrechte und eine gleichberechtigte gemeinsame Zukunft streiten – auf beiden Seiten und überall auf der Welt.

Links:

https://lila-podcast.de/lila077-antisemitismus-im-feminismus/ 

https://en.wikipedia.org/wiki/Israel_and_the_apartheid_analogy

https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/israel/44995/die-gruendung-des-staates-israel/

https://www.theguardian.com/world/2010/feb/03/barak-apartheid-palestine-peace 

https://www.haaretz.com/1.5166320

https://www.amnesty.org/en/documents/mde15/5141/2022/en/ 

https://www.washingtonpost.com/politics/2021/02/16/heres-how-experts-middle-east-see-regions-key-issues-our-new-survey-finds/

https://www.spiegel.de/ausland/apartheid-vorwurf-gegen-israel-alles-ist-eins-a-b06485b7-1e1e-4ad9-b94d-b51656775b8e 

https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-israel-to-step-up-razing-illegal-structures-in-arab-sector-1.5395113 

https://www.theguardian.com/world/2018/jul/19/israel-adopts-controversial-jewish-nation-state-law 

https://www.haaretz.com/.premium-palestinian-workers-to-be-banned-on-buses-1.5319152 

https://en.wikipedia.org/wiki/Hafrada 

https://krautreporter.de/2033-hat-der-feminismus-ein-antisemitismus-problem?shared=3949adf0-b5e1-4f4d-ba76-ca75e2e5fb6c

Foto Credits: Photo by Cristina Gottardi on Unsplash

Die Schule, die man uns vorenthält

Kommentare 2
Allgemein

Ich möchte von einer Schule erzählen, nennen wir sie „Schule 1“:

Die Schule hat 2020, schon zum ersten bundesweiten Lockdown, umgestellt auf ein bereits vorher etabliertes System zum Distanzunterricht. Bestandteil waren Videokonferenzen, ein digitaler Kalender mit Erinnerungen, digitaler Aufgabenabgabe, Chat- und Forums-Funktion für die ganze Klasse oder private Chats.

Es wurde jeder Tag per Videokonferenz von der Klassenlehrerin begonnen, alle Schüler*innen wurden also morgens zur gleichen Zeit abgeholt. Am Anfang der Woche wurde für jedes Fach ein Wochenplan „ausgeteilt“ (digital, gut lesbar!), den die Kids zu bearbeiten hatten.

Die Kids kannten das schon, da auch sonst im „normalen“ Unterricht Wochenpläne und Freiarbeit fester Bestandteil ihres Schulalltags waren.

Analog zum früheren Stundenplan hielt jedeR LehrerIn seinen Fachunterricht per Videokonferenz ab. Die LehrerInnen hatten gut strukturierte Slides dabei, die den SchülerInnen zum Download zur Verfügung standen. Bei Rückfragen zu den Wochenaufgaben war jedeR LehrerIn für jedeN SchülerIn erreichbar.

Kein Computer zuhause? – Kein Problem. In der Schule wurden mehrere Räume samt Computern und Internet zur Verfügung gestellt, die von den SchulsozialarbeiterInnen betreut wurden. Es waren zwar nie mehr als fünf SchülerInnen dort, aber diese waren eben dort und wurden betreut.
Für die Zeit der Pandemie konnte die Schule auch mittels Fördergelder eine Schulpsychologin anstellen, die für alle SchülerInnen online ansprechbar war und in engem Austausch mit den SozialarbeiterInnen stand, um auch proaktiv eventuelle Probleme anzugehen.

Wie gestaltete sich das aus Sicht der Eltern? – Die Kids waren den ganzen Vormittag beschäftigt. Wenn keine Videokonferenz war, gab es Aufgaben zu erledigen. Ja, zwischendrin wurde auch mal geslackt und Computerspiele gezockt – aber dann musste eben Donnerstag/Freitag rangeklotzt werden, denn dann war ja Abgabe. Und nicht nur das: Am Ende der Woche gab es wieder eine abschließende Videokonferenz mit der Klassenlehrerin, wo auch Sorgen oder Nöte angesprochen werden konnten. So wurde zu jeder Zeit auch gesehen, welche Kids sich eher schwer taten mit der Motivation (die Mehrheit) und nach ca. 2-3 Wochen konnten diese gut eingefangen werden. Es gab unterm Strich nach mehreren gemeinsamen Wochen (=gemeinsames Lernen, mit der neuen Situation umzugehen), keine nennenswerten Probleme. Es fiel auf diese Weise niemand durchs Netz. Wirklich alle SchülerInnen und meines Wissens auch aller Jahrgänge, konnten gut mitgenommen werden – ein besonderes Aufholangebot in den Sommerferien, wie vom Berliner Senat angeboten wurde, war nicht notwendig für die SuS.

Die Abiturnote 2021 war zudem der beste Schnitt, den die SuS an der Schule je erreicht hatten. Offenbar konnten insbesondere die AbiturientInnen die Zeit zuhause gut nutzen, sich konzentriert auf die Prüfungen vorzubereiten.

Schon im Herbst 2020 stand die Schule bereit, entweder in den Wechsel- oder ganz in den Distanzunterricht zu gehen. Allein: sie durfte nicht. Denn die meisten anderen Schulen waren nicht bereit. Nennen wir diese Schulen „Schule 2“:

Schulen, an denen die SuS manche ihrer LehrerInnen den kompletten Lockdown über kein einziges Mal sehen konnten.

Schulen, an denen die SuS ein Mal pro Woche die Arbeitsblätter abholen mussten, da es nicht möglich war, diese digital auszuteilen.

Schulen, an denen Videokonferenzen nicht stattfinden konnten, da „das System überlastet“ war.

Schulen, an denen SuS ohne Tablet/PC/Internet – oder gar eigenes Zimmer/eigenen Schreibtisch eben „Pech“ hatten. Es gab für sie kein Angebot (außer, in den Sommerferien alles aufzuholen).

Schulen, an denen Kinder sich selbst anhand von (teils komplizierten) Texten Dinge erschließen sollten – ihr Lernerfolg also davon abhing, wie gut die Eltern sich noch erinnerten… Eine Kontaktmöglichkeit von SchülerIn zu LehrerIn gab es nicht. Nie.

Ich habe beide Schulen kennengelernt. Ich kann alle Eltern verstehen, die Angst vor Distanzunterricht haben, weil ihre Schule das einfach nicht gut gemacht hat. Aber was alle wissen sollten: es wäre auch anders gegangen. Und es war nie zu spät, allen SuS eine Schule 1 zu bieten. Es sind bald zwei Jahre vergangen, man hätte vieles aufbauen und verbessern können. Wenn ein Wille da gewesen wäre.

(Ja, ich habe auch absichtlich etwas kontrastiert in meinen Schilderungen, denn sicher war an Schule 1 nicht alles immer für alle supi und an Schule 2 nicht alles nur schlimm. Aber der Kontrast entstand zu einem übergroßen Teil von ganz allein, einfach durch diese beiden komplett unterschiedlichen Realitäten).

Long Covid Update: Besserung dank zweiter Impfung

Kommentare 2
Allgemein

Weil so viele Menschen meinen Bericht über das Leben mit Long Covid gelesen, geteilt und kommentiert haben, möchte ich gerne ein Update geben. So viel vorweg: Es gibt gute – sogar sehr gute Nachrichten! Es geht mir besser.

Im Nachgang meines Textes habe ich mich viel mit anderen Betroffenen ausgetauscht. Immer wieder kam die Frage nach der Impfung. Ich hatte meine BioNtech-Impfung schon im Mai erhalten, leider ohne einen Effekt auf meine Long Covid-Symptome.

Da in vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen herausgekommen war, dass Genesene nur eine Impfung brauchen, um den nötigen Immunschutz zu entwickeln und weil noch bis in den Sommer hinein der Impfstoff knapp war, und auch wegen eines Berichts im Economist, demzufolge der Effekt der Impfung wohl nur temporär sei, habe ich mich nicht darum bemüht, mich zwei Mal impfen zu lassen. Ich wollte auch niemandem die Dosis wegnehmen, der es dringender braucht.

Doch eine Betroffene berichtete mir davon, dass es bei ihr nach der zweiten Impfung besser geworden sei. Der Brain Fog sei komplett verschwunden und die körperliche Belastbarkeit werde immer besser. Also auch die Fatigue sei verschwunden. Ich las das und wollte dann unbedingt mein Glück versuchen.

Im Impfzentrum in der Arena in Treptow hatte es ein paar Tage zuvor Impfparties gegeben, wo man auch ohne Impfpass und ohne Perso einen Schuss bekommen konnte – dafür war ich leider zu spät dran. Aber: Es war inzwischen kein Problem mehr, einfach ohne Termin reinzuschneien und sich seinen Schuss zu holen. Also radelte ich zur Arena und es ging auch alles sehr schnell.
Vor Ort füllte ich den üblichen Zettel aus und dann machte ich einen entscheidenden „Fehler“: Ich war ehrlich und kreuzte an, dass ich Covid bereits hatte und auch schon eine Impfung. Auf die Frage, warum ich dann gekommen sei, antwortete ich ebenso wahrheitsgemäß: Weil ich auf eine Besserung meines Long Covids hoffte. Da wurde mir schon gesagt, dass man das mit der ärztlichen Leitung besprechen müsse.

To make a long story short: Ich saß dann irgendwann schon vor der Impfärztin, ein Helfer hatte mich aufgemuntert, es sei ja genug Impfstoff da, das würde schon klappen. Trotzdem wurde ich weggeschickt: eine zweite Impfung sei für Genesene nicht vorgesehen. Also radelte ich bedröppelt wieder nach Hause.

Vor drei Wochen wurde ich dann aber doch geimpft. Ziemlich genau acht Monate nach meinem Symptombeginn. Solltet ihr in einer ähnlichen Situation sein, wendet euch am besten an eure behandelnden Hausärzt*innen, die können flexibler entscheiden, als ein Impfzentrum.

Ich hatte etwas Impfreaktion (erhöhte Temperatur, Abgeschlagenheit), aber nach gut einem Tag ging es mir wieder gut und siehe da: der Brain Fog war weg! Nach allem, was ich durch hatte, traute ich dem Frieden nicht und nach einer Impfung soll man sich ja sowieso schonen (Stichwort: Herzmuskelentzündung).

In Woche zwei nach der Impfung stieg ich dann viel aufs Rad, tastete mich jeden Tag ein bisschen mehr ran und radelte schließlich sehr sportlich, mein Puls war im Schnitt bei 140, durch die Stadt. Und dann wartete ich ab. Vor der Impfung hätte spätestens am nächsten Tag die Erschöpfung reingehauen. Wie schon im Sommer, als ich einmal geglaubt hatte, es wäre besser, hätte es mich vielleicht für mehrere Wochen niedergedrückt. Ich war auf das schlimmste gefasst. Doch es passierte: nichts. Mir ging es weiterhin gut.

Es ist jetzt drei Wochen gut gewesen und so langsam traue ich dem Frieden. Ich hoffe, es hält. Aber im Moment sieht es gut aus.

An dieser Stelle noch einmal Danke für all die guten Wünsche und vor allem danke für den Tipp mit der Zweitimpfung! Vielleicht wäre es gut, wenn diese generell auch für Genesene angeboten würde, auch in den Impfzentren. Nicht alle Menschen haben eine Hausarztpraxis, nicht alle sind krankenversichert. Und inzwischen weisen Forschende auch darauf hin, dass die Zweitimpfung für Genesene eine sinnvolle Sache ist* – generell und unabhängig von Long Covid.

* Quelle: Ärzteblatt

Mein Leben mit Long Covid

Kommentare 24
Allgemein

Ein paar von euch wissen es schon: Ich schlage mich seit mehreren Monaten mit den Langzeitfolgen meiner Covid 19 Erkrankung im Dezember herum. Long Covid hat viele Facetten, hier sind meine:

Zuerst war es so ein neurologisches Ding, dass ich also Konzentrations- und Gedächtnisprobleme hatte. Ich fand den Begriff „Brain Fog“ sehr passend, wie Nebel im Gehirn. Ich beschreibe das auch gern als  ein Gefühl, wie wenn ich in meinem Gehirn immer erst hunderte Schubladen durchsuchen muss, wenn ich nach einem Wort, einer Zahl, einem Namen oder einer Erinnerung suche – oftmals finde ich die richtige Schublade nicht.

Zu erschöpft sein für den ganz normalen Alltag

Dann kam nach etwa zwei Monaten – nach Symptombeginn gerechnet – die Fatigue dazu (ja, kam dazu. Der Brain Fog ist nie weggegangen). Also richtig starke Erschöpfung nach eigentlich ganz normalen körperlichen Anstrengungen (also wirklich Alltags-Anstrengung plus ein wenig Fahrrad fahren zB).

Das ist bis heute so. Ich bin in Monat acht nach Symptombeginn. Ich war vor Corona eine fitte junge Frau ohne Vorerkrankungen und ich bin viel Fahrrad gefahren, zB immer zwischen Tempelhof und Friedrichshain.

Ich habe mit Pacing im März angefangen, mein Leben ein wenig um die Fatigue zu bauen: Die erste Anschaffung war eine Uhr, die meinen Herzschlag misst – geht der Puls über eine bestimmte Zahl, muss ich aufpassen, ab da gehe ich über meine Kräfte hinaus und kann Erschöpfung im Nachgang erwarten. 

Ich habe angefangen SEHR VIEL zu schlafen. Neun bis zehn Stunden entsprechen der Dauer, die ich brauche, um erholt zu sein nach dem Schlaf.

Mit Schulkindern ist es fast unmöglich, genug zu schlafen

Die Schule hat diese Woche in Berlin wieder angefangen und ich war wirklich bemüht immer schon um zehn oder kurz nach zehn im Bett zu liegen, aber mehr als acht Stunden habe ich nur einmal geschafft, 8:22 h und das ist zu wenig. Viel zu wenig. Ich bin am Ende dieser Woche komplett im Eimer.

Ich habe viel über Fatigue gelesen und anfangs hatte ich das Gefühl, dass mir die Einnahme von zusätzlichem Coenzym Q10 hilft, dass ich eher Low Carb essen sollte und auf Alkohol möglichst ganz verzichten. – Habe ich diese Woche alles gemacht, aber es hat bisher null gegen die Erschöpfung geholfen, die ich seit drei Wochen mit mir herumschleppe. Diese Erschöpfung rührt daher, dass ich dachte, ich sei eventuell geheilt. Nach einem Urlaub in Dänemark ging es mir sehr gut und habe mich direkt übernommen. Wobei das „mich übernehmen“ noch vor einem Jahr keine große Sache gewesen wäre: Ich bin etwas mehr als 30 km an einem Tag mit meinem E-Bike durch diese Stadt gefahren.

Mit meinem E-Bike, das ich auch habe, weil ich Fahrradfahren von meiner Liste streichen musste – weil der Puls signifikant über mein Level ging dabei. Mein e-bike ist meine Rettung gewesen, es hat mir ein Stück meiner Lebensqualität zurück gegeben. Es hat mich von A nach B gebracht, an der frischen Luft mit FAST dem Gefühl von früher – Fahrradfahren ist nämlich toll, ich fahre total gerne durch diese Stadt.

Ich hab mich also mit meinem E-Bike (es ist eins mit einem echt guten Motor, ich habe es mir mit einem strengen Monitoring meiner Herzfrequenz ausgesucht!) übernommen und mich bis heute nicht davon erholen können. Auch, weil mein Wecker jeden morgen klinglet, weil Schule ist (ich lebe alleine mit zwei Kindern, es KANN niemand anders aufstehen und ihnen Frühstück machen und sie dabei unterstützen, sich für die Schule fertig zu machen). Vielleicht auch, weil ich in einem anderen Urlaub etwas zu viel Alkohol getrunken habe. Wie gesagt: der tut mir gar nicht gut!

Und ich bin am Ende, weil ich heute morgen feststellen musste, dass mein E-Bike geklaut worden ist. Mein Stückchen Lebensqualität – es ist weg. Und als ich das gecheckt habe, ist ein Loch unter mir aufgegangen. (bitte keine Tipps wegen Versicherung usw. – es war Vollkasko versichert und ich gehe davon aus, dass es ersetzt wird).

Meine Resilienz ist langsam aufgebraucht

Es hat sich viel angesammelt diese Woche – die Erschöpfung war schon da, war nie wirklich weg, dazu kam der IPCC-Bericht, und jetzt noch das und ich schaff das grade nicht, mich zusammenzureißen, ich krieg das grade nicht hin. Ich habe geweint. Ich hab mir Zeit genommen, zu trauern. Weil es einfach scheiße ist. Wirklich scheiße.

Ich muss wohl dazu sagen, dass ich eigentlich ein totaler Nachrichtenjunkie bin und SEHR resilient, was den ständigen Konsum der News angeht, obwohl ich viel Empathie mitbringe – also mich ja auch wirklich immer dann besonders einlese, wenn es um Ungerechtigkeit, Menschrechtsverletzungen und Klima-Folgen und sowas geht. Ich habe eigentlich einen Modus, das gut zu können, Psychohygiene zu betreiben. Auch, weil es mein Job ist. 

Aber diese Woche habe ich das kaum geschafft. Ich habe Nachrichten gehört und einen Kloß im Hals gehabt. Ich habe Twitter gelesen und meine Uhr zeigte viel zu hohen Puls an. Ich habe Zeitung gelesen und war aufgewühlt. Und alles das hat mich zusätzlich erschöpft.

Schickt die Impfgegner zu mir!

Warum ich das alles erzähle? Weil ich so oft das Gefühl habe, sagen zu wollen: Kommt alle zu mir, ihr Corona-Leugner! – Ihr: „Ich lass mich nicht von meiner Angst-steuern!“-Jünger und ihr jungen, fitten Leute, die ihr denkt, dass ihr das schon mit eurem Mega-Immunsystem abwettern würdet (übrigens: bester Text von Theresa Bäuerlein: Das unterschätzteste Gefühl dieser Zeit ist: Angst)

Ich hab auch gedacht, dass ich das schon mit meinem tollen Immunsystem abwettern würde (ich hatte um ANDERE Menschen Angst und hab deswegen recht paranoid gehandelt die ganze Zeit, also bis jetzt eigentlich, wo ich Angst habe, dass mein ungeimpftes Kind mit Long Covid enden könnte) – ich war völlig unvorbereitet und hatte ein KOMPLETT anderes Jahr geplant, als das, was ich jetzt dank Long Covid erleben musste. Kommt zu mir und ich erzähl euch mal, wie sich das anfühlt, wenn man nicht mal mehr zu seinem eigenen Mann mit dem Rad fahren kann, ohne hinterher komplett im Arsch zu sein. Erzählt mir mehr von eurer Impfskepsis – ich erzähle euch dann ein bisschen von meinen Einnahmeneinbußen 2021… 

Eure ganze Attitüde basiert auf einer einzigen „Kompetenz“: körperliche Fitness. Gratulation, dass ihr damit so weit gekommen seid. Nur exakt das ist es, was mir Covid19 nachhaltig genommen hat. Worauf wollt ihr eure ganze Ideologie eigentlich bauen, wenn es euch vielleicht genauso geht (wie übrigens 10 Prozent der Menschen, unabhängig von der Schwere des Verlaufs)? Versucht mal, euch diese Frage zu beantworten: Was bin ich ohne meine Fitness? Wie sähe mein Leben mit Brain Fog aus? Werde ich weiterhin meine Familie ernähren können, wenn ich nur noch 50 Prozent oder sogar weniger belastbar bin?

Nein, ich will keine Angst schüren. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass Covid mehr ist, als eine Krankheit, an der nur die Alten und Vorerkrankten sterben (als wäre das nicht Grund genug, die Sache einzudämmen! aber offenbar ist es nicht genug 🙁), bei der wir nur über die Auslastung Intensivstationen sprechen sollten. Ich habe noch nie in meinem Leben im Krankenhaus gelegen, geschweige denn auf der Intensiv! Long Covid wird Hunderttausende treffen, je mehr sich infizieren, desto mehr wird es auftreten. Tun wir uns allen einen Gefallen: Halten wir die Zahlen niedrig, solange unsere Kinder nicht geimpft werden können und wer kann: lasst euch impfen.

Schönes Wochenende 🌺

Hetero-Ehe? – okay, aber bitte 1.000€ pro Kind nach der Scheidung

Kommentare 6
Allgemein

Ich stolperte neulich über diesen sehr interessanten Thread und Streit auf twitter:

Miriam Vollmer liegt in meinen Augen vollkommen richtig. Das Argument, dass Feministinnen immer nur auf Hausfrauen rumhacken ist alt, mir schon unzählige Male begegnet und ich kann jedes Mal nur gähnen. Wir hacken nicht drauf rum, wir sind einfach nur realistisch, so leid es mir tut.

Aber: Ich habe einen Tipp an alle Frauen, die planen eine Hetero-Ehe mit einem Mann und ggf. Kindern einzugehen und ich meine es verdammt ernst. Sichert euch ab. Macht einen Ehevertrag, in dem ihr genau festhaltet, wie ihr von ihm abgesichert werdet, falls es zur Scheidung kommt. Und zwar abhängig davon, wieviel Sorgearbeit er übernommen hat.

Das erste Kind wird geboren? – Ehevertrag her und am besten noch vor der Geburt festschreiben: Sollte es zu einer Scheidung kommen, dann sollte der Mann der Frau pro Kind, um das er sich nicht genauso viel gekümmert hat, für das er nicht genau so viel beruflich zurück gesteckt hat, bis an das Ende ihres Lebens 1.000 Euro zahlen.

In Worten: Eintausend Euro.

Ich hab erst überlegt, ob ich 500 Euro schreiben sollte, aber wisst ihr was? Das ist viel zu wenig! Der Verlust an Lebenseinkommen pro Kind ist bei Müttern enorm, man kann nicht wirklich überschätzen, wie enorm. Während ein westdeutscher Mann ein gemitteltes Lebenseinkommen von 1,5 Millionen Euro haben wird (Quelle), hat eine westdeutsche Mutter 62 Prozent weniger, nur 578.000 €! Da liegt fast eine Million dazwischen. Und ja: Das Problem heißt Mutterschaft! Kinderlose Frauen verdienen nur etwas 13 Prozent weniger – das ist immer noch ein Unterschied, aber mit gut 1,3 Millionen ist der Abstand zu Männers nicht so groß.

Wenn Mütter also fast eine Millionen Euro auf ihr Leben gerechnet weniger verdienen und diese Lücke mit jedem Kind größer wird (Quelle), dann wird ein Schuh aus meinen 1.000 € pro Kind. Nehmen wir an unser Hetero-Ehepaar wird Eltern wenn sie 30 Jahre alt ist und lässt sich dann nach zehn Jahren scheiden – denn darum geht es ja hier! Nun ist sie 40 und Hausfrau und steht da und wird bis an ihr Lebensende insgesamt etwa eine Million Euro weniger verdient haben, als er – hallo Altersarmut mit Hauptrisikofaktor: Geschlecht weiblich (Quelle).

Wenn sich die beiden, die inzwischen zwei Kinder haben, geeinigt haben, dass sie pro Kind nach der Scheidung monatlich 1.000 € von ihm bekommt, dann sind das auf 40 Jahre (nehmen wir der Einfachheit halber an, sie lebt noch 40 Jahre) gerechnet 2.000x12x40 = 960.000 € – also ziemlich genau die fast-Million, die sie wegen ihrer Mutterschaft nicht verdient! So eine Verabredung zu treffen kann zwei Dinge bewirken:

  1. Wer bei der Geburt eines Kindes eine solche Verabredung trifft (und haltet bloß GENAU fest, was Hälfte-Hälfte Sorge bedeutet! Das beginnt bei der Elternzeit, geht weiter über Karriere-Schritte (Teilzeit, Beförderungen, Überstunden usw…) und endet bei Mental Load, lest Patricias Buch!), der hat einen starken Anreiz geschaffen, dass der Typ in der Ehe sich alles doch noch einmal *sehr* genau überlegen wird.
  2. Falls es – was unter diesen Umständen recht unwahrscheinlich sein dürfte, aber hey, alte Gewohnheiten sind sehr sehr stark – zu einer Ungleichaufteilung der Sorgearbeit kommt, sie weniger verdient, Teilzeit arbeitet usw… – also das ganz übliche „huch, also wir waren eigentlich mal emanzipiert, aber dann kam das Kind!“ – dann gibt es immerhin eine Sicherheit für die Frau.

Ich habe viele Jahre gegrübelt, wie man junge Frauen davor bewahren kann, in die ewig gleiche Falle zu tappen (in die ich übrigens anfangs selbst getappt bin, believe me! – aber nach der Trennung wurde das immerhin besser). Und ich glaube, dass alle Verabredungen und langen Gespräche und Awareness usw… total lieb und nett sind, aber am Ende höre ich doch von jedem zweiten werdenden Papa, dass er „die zwei Vätermonate“ nimmt und ich bin mir absolut sicher, dass nur Geld, kaltes, schnödes Geld, ein Umdenken bringen kann. Und wenn es Diskussionen darüber gibt, dass 1.000 € jawohl ein wenig arg… also bitte, TAUSEND Euro! Dann rechnet es vor (siehe oben). Und außerdem: Es muss ja nicht so kommen – er hat es ja in der Hand, indem er seinen Teil der Verantwortung übernimmt.

 

Photo by Aditya Romansa on Unsplash

Eltern interessieren sich nicht für Schule

Kommentare 3
Allgemein

Okay, okay – ich gebe zu, eine provokante These. Die muss man erstmal untermauern.

Aber zuerst möchte ich ein Gespräch mit meinen Kindern nacherzählen. Da ging es um die Frage, was ein Bundeselternrat ist. Ich erklärte, dass es ja in jeder Klasse Elternvertreter*innen gibt, zum Beispiel bin ich gerade eine. Aber: Das bin ich nur, weil gerade Corona ist und ich mitbekommen will, was passiert und wo man im Zweifel Druck und Stress machen muss. Wäre das nicht, hätte ich nicht kandidiert und wie die meisten Eltern habe ich dafür extrem gute Ausreden (getrennt erziehend, Unternehmenschefin – ich könnte noch eine vergangene Depression in die Waagschale werfen, die mich dazu bringt, besser auf mich zu achten und nicht überall „ich mach’s!“ zu rufen).

Jedenfalls erklärte ich, dass es aus jeder Klasse Elternvertreter*innen gibt, die dann zur Gesamtelternvertretung, kurz GEV, zusammenkommen, wo auch die Schulleitung zugegen ist und Dinge besprochen werden. Die GEV, so erklärte ich weiter, wählt Bezirkselternvertreter, die wiederum wählen Leute in den Landeselternrat und die wiederum wählen Leute in den Bundeselternrat. So geht das also. Und dann hat man irgendwie eine Stimme und kann mitreden, oder es zumindest versuchen.

Aha. Die Kinder fragten, wie das so ablaufe, also wie man das alles wird. Ob man da irgendwas besonderes können muss. Sich beweisen muss. Weil schließlich will man ja von den anderen Eltern gewählt werden, also muss man von denen als besonders geeignet empfunden werden. So stellten sich die Kinder das vor. Ich zum Beispiel habe ja Erziehungswissenschaften studiert und beschäftige mich seit 20 Jahren mit Bildungs- und Schulpolitik. Als ich erklärte, dass man das einfach wird, indem man eben kandidiert und dann wird man sehr sicher gewählt, weil alle froh sind, dass man es macht, weil keiner das machen will, da waren sie schon etwas erstaunt, vielleicht, weil sie das von Klassensprecher*innenwahlen irgendwie anders kennen.

Aber es ist so: Man wird Elternsprecherin, indem man kandidiert. Alle werden einen wählen und hinterher sagen sie „Danke, dass du das machst“, weil sie nämlich alle keine Zeit dafür haben oder vielleicht denken, dass es eh verschwendete Zeit ist. Das ist es aber nicht! Man bekommt alles haarklein mit und vor allem hat man auf einmal die Chance, bei der GEV der Schulleitung direkt Fragen zu stellen! So habe ich zum Beispiel erfahren, dass der Schulleitung die Hände gebunden sind, was Maskenpflicht im Unterricht angeht. Sie DARF das nicht anordnen. Auch dürfen Berliner Schulleiter*innen nicht einfach so ein Best Practice Digital-Paket kaufen, das in anderen Ländern genutzt wird, weil irgendwelche Verträge das verhindern. Das was sie kaufen dürften, funktioniert aber nicht wirklich. Deswegen gibt es eine Petition, und die könnten zum Beispiel die Eltern unterstützen.

Bloß: Die Eltern wissen davon in der Regel nichts. Denn das, was viele Elternvertreter*innen machen, ist das unkommentierte Weiterleiten von Protokollen und Briefen und sonst nichts. Ach – pardon! – das war unfair! Sie übernehmen natürlich auch die unglaublich wichtige Aufgabe, den Weihnachtsbuffet-Tisch zu organisieren, also dass jede*r was mitbringt und nichts doppelt ist und natürlich die Blumensträuße für das Jahresende zu besorgen! Dann sagen wieder, wie zu Beginn des Schuljahres, als sie als einzige kandidiert haben, weil sonst niemand wollte, alle: Danke! Danke, dass du das machst.

Als im März und April die Schulen komplett zu waren, da hörte man viele Eltern jammern, dass die Schulen zu waren. Auf einmal waren sie allein mit der Aufgabe, das Kind zum Lernstoff zu bringen. Und manche, viel zu viele, waren wirklich, wortwörtlich: ALLEIN. Denn es gab von Schulen erst einmal nicht viel Hilfe. Man bekam Aufgabenblätter zugeschickt, Glück gehabt, wer einen Drucker hatte, und dann sollte man eben schauen. Manche Schulen schafften recht schnell, dass Lehrer*innen per Online-Konferenz mit ihren Schüler*innen wenigstens einmal täglich zusammenkamen und sprachen. Aber die meisten Eltern fühlten sich allein gelassen und waren komplett überfordert. Niemand hatte ihnen zum Beispiel gesagt, dass es hilft, jeden Tag einen Plan zu machen, zusammen mit den Kindern: Einen Stundenplan! Um Struktur in den Tag zu bringen. Und dass auch Pausen wichtig sind. Oder dass es wichtig für ein Kind ist, zu wissen, wann „der Schultag“ vorbei ist und es Eis gibt oder Switch spielen oder der tägliche Spaziergang. Viele Eltern sind einfach so in den Tag gestartet, ohne einen Plan und die Tage sind ihnen irgendwie passiert. Und jeden weiteren Tag wurde es anstrengender und die Kinder unmotivierter und die Konflikte größer. Wenn man nie gelernt hat, Kinder zu unterrichten und den Tag mit ihnen zu strukturieren, dann ist man überfordert. Deswegen atmeten so viele Eltern so auf, als die Schule wieder öffnete und ich glaube, das ist das, was bei der KMK und bei den Schulminister*innen ankam: Wehe ihr schließt uns die Schulen!

Und aus Mangel an einem Zwischenweg, ein Weg zwischen: Alle stapeln sich ohne Abstand und ohne Maske im Unterricht (in Berlin bis zu 32 Kinder in einem Raum) und alle sitzen komplett hilflos und unmotiviert zuhause – haben die Schulpolitiker*innen das Mantra vor sich hergetragen, dass der Unterricht garantiert werden muss, bis es einfach nicht mehr anders geht. Denn zum ersten Mal haben sie etwas erlebt, das sie bis dahin nicht kannten: Die Eltern waren laut geworden. Sie haben Hashtags erfunden. #Coronaeltern. Sie waren in der Presse. Sie waren sehr wütend. Auf einmal spürten die Kultusminister Druck – ich glaube, das war komplett ungewohnt für sie! Und weil die KMK das vielleicht einfallsloseste und uninspirierteste Gremium dieses Landes ist, hat sie gesagt: Alles klar – wir werden alles geben, damit alles so bleibt, es vor Corona war!

Und die Eltern: Haben sich mal wieder damit abspeisen lassen.

Ich könnte jetzt einen ewiglangen kapitalismuskritischen Exkurs hier einfügen, der von der Notwendigkeit, zu arbeiten, als Arbeitskraft verfügbar zu sein, den Überstunden, den Alleinerziehenden, die eh im Arsch sind, den Überforderungen und hohen Mieten usw… handelt und nur auf eins hinausläuft: Die meisten Eltern, die ich kenne, gehen eh schon auf dem Zahnfleisch. Auf die eine oder die andere Art. Sie haben schlichtweg keine ZEIT, auch noch die Aufgaben oder die Versäumnisse der Schule aufzufangen und ihnen fehlt oft auch das Wissen um moderne pädagogische Konzepte, also das Wissen, dass ALLES, was für sie NORMAL ist, auch komplett anders gehen könnte. Ich kenne so viele Eltern, die ihre Kinder aufs Gymnasium schicken, weil man das so macht. Weil das angeblich die beste Schulform sein soll. In anderen Bundesländern mag das so sein. In Berlin ist das schon erstaunlich, denn auf den Integrierten Sekundarschulen kann ein*e Schüler*in auch das Abitur machen, hat allerdings kleinere Klassen (26, statt 32 Kinder), hat oft eine Doppelbesetzung (ja, das bedeutet ZWEI Lehrer*innen in der Klasse! krass, oder?), hat weniger Stress und mehr Zeit (Abitur in 13 Jahren, statt in 12) und vor allem eine entspanntere Oberstufe. Und trotzdem schicken Eltern Kinder mal lieber aufs Gymnasium, weil sie das nicht wissen. Und weil sie nicht gelernt haben, sich ein Urteil darüber zu bilden, was eigentlich eine gute Schule ist. Und weil sie denken: Es werden schon alle Schulen irgendwie gleich gut sein, weil das sind ja staatliche Schulen, das ist ja sicherlich egal, auf welche mein Kind dann geht. Da geht das eigentlich alles los mit den Problemen, es fängt damit an, dass Eltern die Alternativen nicht kennen und sie haben in der Regel nicht die Zeit, sich um all das intensiver zu kümmern, hinter die Fassaden so mancher Schulen zu schauen und auseinander zu halten, was die eine Schulart von der anderen unterscheidet. Und ganz oft wollen Eltern einfach: Ihre Ruhe.

Und I feel you. Aber: Niemals wird sich so etwas ändern. Nie. Es gibt ein paar engagierte Eltern und ein paar engagierte Schulen und die finden im Idealfall zueinander und der Rest…? Tja. Der Rest findet sich dann eben auch, und zwar im Mantra der KMK, dass bitte einfach die Schulen auf sein sollen, damit sie arbeiten gehen können. Im Hort werden alle Kinder verschiedener Klassen gemischt betreut? Auch während 14.714 Corona-Neuinfektionen gemeldet sind und die 7-Tage-Inzidenz im Bezirk weit über 100 ist? – Auftritt Optimism Bias! Ja, das ist schon schwierig, aber es geht halt auch nicht anders. Wie soll es denn anders gehen?

Doch, sage ich. Es GEHT anders! Aber man muss sich eben dahinterklemmen, man muss eben motzen. Erst den Klassenlehrer*innen auf den Keks gehen, den Schulleiter*innen auf den Keks gehen – was ich allerdings in Berlin sein lasse, weil ich weiß, dass denen die Hände gebunden sind – und dann geht man gefälligst auf die Barrikaden! Warum gibt es nach über 6 Monaten kein etabliertes digitales Lernen an allen Schulen? Warum riskiert man einen neuen Lockdown, anstatt gleich und sofort auf Nummer sicher zu gehen und die Klassen zu teilen, Präsenz- und digitalen Unterricht abzuwechseln? Warum keine Masken im Unterricht? Weil die Covidioteneltern dann motzen? Sind die wirklich lauter, als die normalen Eltern? – Offenbar ja! Die mögen vielleicht auf nem kompletten Irrweg unterwegs sein – aber sie sind immerhin engagiert und sie schreiben erboste Mails und reißen das Maul auf und schicken Unmengen Links an alle anderen Eltern, die eigentlich nur ihre Ruhe wollen und deswegen nichts sagen (ich habe was gesagt – und ratet, was man zu mir am Elternabend sagte: Danke, dass du was gesagt hast!).

Und ja – doch – es ist ein bisschen unfair zu sagen, dass Eltern sich nicht dafür interessieren, was in der Schule abgeht. Ich erlebe das ja bei Elternabenden, dass sie durchaus in der Lage sind, zu benennen, wenn eine Lehrkraft total daneben ist. Oder wenn Mathe oder Chemie ganz schlecht vermittelt werden und ihre Kinder nicht mitkommen und schlechte Noten deswegen bekommen. Das stresst sie. Das stresst direkt – wenn die Kinder nicht mitkommen und schlechte Noten DROHEN, das stresst, da sagen Eltern was. Es stresst sie auch, wenn sie nicht genau wissen, was sie tun sollen, wenn ihr Kind inmitten der Pandemie Erkältungssymptome hat. Soll es dann wirklich immer zuhause bleiben? – Es beruhigt sie sehr, wenn sie zu hören kriegen, dass das Kind, so es denn kein Fieber oder erhöhte Temperatur hat, in die Schule kommen kann. Da freuen sich alle, denn Eltern wollen ihre Ruhe und ein Kind zuhause ist nicht Ruhe.

Das Problem ist: Der Weg zu einer besseren Schule führt durch eine Zeit, eine eventuell lange, anstrengende Zeit, in der man ganz bestimmt nicht seine Ruhe hat. Man müsste Unterschriftenlisten sammeln. Oder streiken. Petitionen schreiben. Vor dem Abgeordnetenhaus protestieren. Man müsste sich vernetzen, die Presse kontaktieren, denn so lässt sich immer noch am besten Druck auf die Politik machen, man müsste aktiv an Schule teilhaben, hospitieren und mitschreiben, was alles nicht gut läuft, man müsste in den Austausch mit den Schulleiter*innen gehen, die sind sogar richtig oft auf der Seite der Eltern und wünschten sich, dass diese mal mehr Druck machen. Alles das beginnt mit dem Schritt, auch mal Elternsprecher*in zu sein, mal mitzubekommen, was an der Schule abgeht, was im Bezirk abgeht, was im Land abgeht und sich mit anderen Eltern auszutauschen. Man müsste auch „riskieren“, dass man mal ne Weile sein Kind zuhause betreuen muss, weil es nicht in die Schule geht unter diesen Umständen – das wiederum muss man sich leisten können, von der Arbeit her (ich muss doch irgendwann diesen kapitalismuskritischen Exkurs aufschreiben!). Und weil das alles viel zu viel verlangt ist und die eigenen Kräfte übersteigt, resigniert man. Das, was man kriegt – das REICHT ja. Es ist ja gerade genug, um klarzukommen, um sich über Wasser zu halten.

Bis der nächste Lockdown kommt und wir alle merken, dass das, was Schule zu bieten hat, schon sehr lange nicht mehr reicht. Aber wenigstens hatten wir dazwischen ein paar Monate lang unsere Ruhe.

Update 24.10.2020, 11:04 Uhr: Ich habe die Schulleitungen vielleicht zu schnell vom Haken gelassen, denn grade kam diese Meldung bei mir rein: Die erste #Berliner #Schule pfeift auf den Stufenplan der Verwaltung: Im Rückert-Gymnasium (TempSchö) gilt „angesichts der hohen Inzidenzwerte“ ab Montag #Maskenpflicht für alle. Und ich erkenne: Auch mehr ungehorsame Schulleitungen können Teil der Lösung sein.

Dann eben wieder bloggen

Schreibe einen Kommentar
Allgemein

Vor 15 Tagen wurde mein Twitter-Account @dieKadda gesperrt. Zuerst konnte ich das nicht wirklich fassen. Gesperrt? ICH?!

Ja: Ich. Wegen eines Tweets, dessen Worte ich mir vorher sehr genau überlegt habe, es war kein Reflex-Tweet, es war eine Antwort. Eine Nonemention an jene guten Menschen in meiner Timeline, die sich ob des Hashtags #TrumpHasCovid dabei ertappten, dass sie sich freuten. Gute Menschen, weil sie sich sofort dafür schämten. Deswegen schrieb ich:

„Ich glaube, es ist okay sich über #TrumpHasCovid zu freuen.“

Ich habe Trump damit nicht gewünscht, dass er krank, gar schwer krank oder sterbenskrank wird. Er hat es einfach bekommen und damit schien es plötzlich möglich, dass die monatelange Trump-Show zum Thema Covid-19 eine Wendung bekommt.

Trump hat das Virus über ein halbes Jahr lang erst als Hoax bezeichnet, als nicht so schlimm, es relativiert, die Bevölkerung angelogen, es heruntergespielt und immer wieder demonstrativ gezeigt, dass er auf Masken einen Scheiß gibt. Er wurde sogar in diesem Land zur Gallionsfigur der Covid-Leugner und jener, die Masken als „Maulkorb“ bezeichnen. Sich zu freuen, dass einer wie er, und damit hoffentlich Hunderttausende, die seinen Quatsch glaubten, nun eines Besseren belehrt wird, ist nicht verwerflich. Wie die Psychologin Lea Boecker im Spiegel-(€)-Interview sagt, ist das eher ein Zeichen dafür, dass man noch hofft, dass die Welt nach gerechten Regeln funktioniert. Dass auch jemand wie Trump Konsequenzen seines Handelns erfährt (und wie Mary Trump, die ebenfalls Psychologin ist, in ihrem Buch „Too Much and Never Enough“ darlegt, ist genau das immer das Problem in der Familie Trump gewesen, die Abwesenheit von Konsequenzen ist es, die das „Monster“ Trump erschuf).

Weiter ging mein Tweet: „Durch diesen Mann sind so viele Menschen gestorben, erleiden unnötiges Leid, der Hass, die Gewalt eskalieren. Es ist okay, dass man kurz hofft, dass es vielleicht so aufhört.“ (Der Tweet ist inzwischen gelöscht, auf Mastodon kann man ihn aber noch sehen)

Aufmerksamkeit von rechts

Danach ging meine Mentions-Spalte steil, denn ich hatte offenbar einige Beachtung in rechten Kreisen bekommen. Und mit den Mentions wurde offenbar auch fleißig gemeldet, so dass ich recht bald gesperrt wurde.

Ein Video von meinen Mentions, kurz bevor ich gesperrt wurde.

Die Begründung für die Sperrung lautete:

„Du darfst dich nicht an der zielgerichteten Belästigung von Nutzern beteiligen oder andere dazu ermuntern“

Was ich nicht getan habe. Wie man in obigem Video sieht, bin ich eher genau davon Opfer geworden. Weiter heißt es:

„Jemand anderem körperlichen Schaden zu wünschen oder Hoffnungen in dieser Richtung zu äußern, zählen zu einem solchen Verhalten dazu.“

Wie schon gesagt, habe ich meine Worte mit Bedacht gewählt, denn jemand anderem körperlichen Schaden zu wünschen ist einfach auch nicht meine Art. Ich wünsche oder hoffe nicht einmal selbst, sondern bemerke, dass ich es okay finde, wenn man „kurz hofft“, dass es so aufhört. Dass was aufhört? Na was im Satz davor steht: dass Menschen sterben, dass sie unnötiges Leid erleiden und dass Hass und Gewalt geschürt werden.

Die gängige Interpretation von denjenigen, die sich aufgeregt und gemeldet haben, die bei genauer Betrachtung – ich habe mir deren Profile angesehen, während ich fleißig blockte – zu 90 % entweder Covid-Leugner oder eben Rassisten waren, war: Katrin Rönicke wünscht Trump den Tod. Ich finde, das sagt mehr über diese Leute aus, als über mich und ich wundere mich sehr, dass Twitter dieser Interpretation gefolgt ist. Wenn man einigermaßen Leseverständnis hat, steht das da nämlich nicht.

Covid-19 im Fokus der Debatte

Für mich persönlich war die Nachricht, dass Trump erkrankt ist, in der Tat ein kurzer Hoffnungsschimmer, dass sich nun auf irgendeine Weise etwas ändert. Nicht durch seinen Tod, oder weil er so schwer erkrankt, dass gar nichts mehr geht – sondern weil es gerade nach dem Duell gegen Biden, in dem Trump vielleicht nicht einmal wusste, welche Geister er rief, als er zu den „Proud Boys“ sprach, einfach mal kurz um etwas anderes ging, als Trump wollte. Trumps Taktik war bis dahin, im Wahlkampf den Fokus von COVID-19 und seinem völligen Versagen auf dem Feld – und Versagen ist schon ein Euphemismus, wenn man bedenkt, dass Hunderttausende US-Amerikaner gestorben sind! – abzulenken, vor allem indem er den starken Mann gegen die #BLM-Proteste im Land spielte. Der starke Mann ist durch und durch Trumps Lieblingsrolle – insofern passt eine Covid-Infektion doppelt nicht in den Plan.

Trumps Umfragewerte sinken in der Tat seit der Infektion, es scheint ihm immer schwerer zu fallen, über seine Hardcore-Fans hinaus Menschen für sich zu begeistern*. Sprich: Die Covid-19-Infektion könnte ihn die Wahl kosten. Die Hoffnung, dass es so endet, nämlich indem die Covid-Infektion den letzten Ausschlag geben könnte, Trumps Wiederwahl am 03.11. zu verhindern, die ist nicht einmal falsch gewesen.

Die Trump-Show geht weiter

Was dann kam, wissen wir alle: Trump kam ins Krankenhaus (hier versuchte das Weiße Haus herunterzuspielen, wie ernst es um ihn stand), er produzierte von dort ein paar Bilder, die signalisieren sollten, dass er immer noch imstande war, seinen Job zu machen, dann kam er sehr schnell, vorzeitig, wieder zurück ins Weiße Haus und inszenierte sich sofort mit noch mächtigerer Bildsprache als den, der das Virus besiegt hat – das Coronavirus sei „like a blessing from god“. Und dann als den, der zeigt: JEDER kann das Virus besiegen, dazu Werbung für eine Pharma-Firma, mit dessen CEO er verkumpelt ist, Anpreisung der noch experimentellen Theapie als „Cure“ und dass er wolle, dass ALLE diese Behandlung bekommen. Also er *will* das. Aber er hat nicht gesagt, dass er *dafür sorgen* wird.

Wie dem auch sei: Durch die schnelle Genesung konnte die Trump-Kampagne auch schnell wieder dazu übergehen, die Bildsprache des starken Mannes noch weiter hochzufahren. Sehr schön analysiert von meinen Kolleg*innen bei Lakonisch Elegant. Die Trump-Show kann weitergehen, dank der magischen Genesung des Präsidenten, für dessen Anhänger*innen nun umso klarer ist, dass er mit allem Recht hatte: Das Virus ist also wirklich nicht so schlimm und er wird alle retten (naja, er WILL. Aber sie verstehen WIRD). Insofern ist die schnelle Genesung in Bezug auf die oben geschilderten Hoffnungen – Hoffnung auf einen Wechsel, auf eine Wahlschlappe am 03.11., auf ein Ende der Gewalt, des Hasses und des Leids – nicht gerade förderlich. Und das war absehbar.

Fazit

Mein Tweet wünschte Donald Trump keinen körperlichen Schaden, sondern dem amerikanischen Volk ein Ende der Präsidentschaft durch Donald Trump. Ich gebe zu: Eine so schnelle Genesung habe ich ihm auch nicht gewünscht. Warum, haben wir jetzt alle gesehen.

Twitter lässt mich an mein Konto nur, wenn ich meine Handy-Nummer abgebe, damit sie mir eine SMS schicken können. Ja, ich habe schon eine Prepaid-Zweitnummer bestellt, weil das auch für andere Zwecke ja auch mal sinnvoll sein kann – ich habe schließlich auch eine gesonderte E-Mail-Adresse für solche Zwecke. Doch die Zweitnummer wird für den Account von anekdotisch evident draufgehen (wurde einfach mal mitgesperrt; angeblich „automatisiertes verdächtiges Verhalten“) und man kann keine Nummer zweimal benutzen. Und eine Drittnummer werde ich mir nicht zulegen. Nicht für twitter. Nicht nach dieser Aktion. Stattdessen wird jetzt eben wieder gebloggt. Hallo und willkommen bei nebenbei bemerkt, dem Blog, in dem ich meine Gedanken, Analysen, Fotos, Buchtipps, Kurzgeschichten (who knows?) und ja – auch ein paar nicht gesendete Tweets festhalten werde.

.

* Jaja, die Umfragen sind vermutlich für die Tonne, aber auch, wenn sie nicht darstellen, was die Realität ist und es Fehler gibt, so kann man Trends erkennen und die Trends zeigen seit der Covid-Diagnose abwärts für Donald Trump.

Update vom 19.10.2020:

Nach 17 Tagen Sperre hat es heute geklappt. Ich konnte die neue Zweitnummer tatsächlich für beide Accounts nutzen, habe dann noch Einspruch gegen die Löschung des Trump-Tweets eingelegt und jetzt bin ich wieder da und der Tweet ist es auch.